Walter Spielmann, ehemaliger Leiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, ist langjähriger Hospiz-Begleiter und rezensiert einschlägige Bücher für die Hospiz-Bewegung Salzburg. Aktuell ist es das Buch »Notizen für Tobias. Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes.«
Männer, so heißt es allgemein, trauern im Stillen. Nur selten seien sie in der Lage, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben und zu berichten, was sie nach dem Tod eines nahen Menschen bewegt. Golli Marboe, dessen Sohn Tobias sich mit einem Sprung aus der elterlichen Wohnung das Leben nahm, hat einen anderen, tief bewegenden Weg gewählt, um seiner Trauer Ausdruck zu verleihen, den offenen Umgang mit dem Tabuthema Suizid einzufordern und so seinem beschädigten Leben neuen Sinn zu geben.
Komplexe Spurensuche. Was mag einen kreativen, vielfach begabten, weithin fröhlichen und seiner Familie eng verbunden Menschen dazu veranlassen, sich im Alter von 29 Jahren das Leben zu nehmen? Golli Marboe, der Vater, hat nach dem Suizid seines Sohnes am 26.12.2018 den Versuch einer Erklärung begonnen. Im vielfältigen künstlerischen Schaffen von Tobias – Fotografien und Videos, ausdrucksstarken Wachsbildern, Texten und Wort-Bild-Grafiken, die überwiegend mit „to-be“, auch zu lesen als erklärter Willen zum Dasein, und mit einem verschmitzt ironischen „Chillaxion“ unterfertigt wurden – findet er Anzeichen. Im Lied vom „einsamen Astronaut“, das Tobias auch gerappt vorzutragen wusste, heiß es: „(…) Komm mit mir / folge mir ins All / hier gibt es keine Wolken / nur die Sonne, die strahlt / hier ist es zeitlos, es gibt keinen, /der dir Kraft noch raubt / in meinem Raumschiff und mir, /dem einsamen Astronaut. (…)“ (S. 24)
Die Anerkennung, die Tobias in der Familie fand, so mutmaßt der Vater, war dem sensiblen und auch für gesellschaftliche Herausforderungen aufgeschlossenen jungen Mann nicht genug. An elterlicher Zuneigung wird es ihm nicht gefehlt haben, das legt auch ein liebevoller Abschiedsbrief nahe, sondern an öffentlicher Resonanz und Wertschätzung. Spärliche Einkünfte, die Tobias mit seinen Arbeiten erzielen konnte, werden Zweifel genährt haben. Auch weitreichende politische Ideen, die er als glühender Europäer und Verfechter eines Grundeinkommens für alle in weite Ferne gerückt sah, dürften in Zeiten der vorherrschend reaktionären Stimmung in Österreich zudem eine Rolle gespielt haben.
Damit freilich nicht genug: Marboe hinterfragt auch seine Rolle als Vater, in der er sich fundamental gescheitert sieht, wenn er beklagt, „dem eigenen Kind offensichtlich nicht genug Sicherheit, Liebe, Geborgenheit gegeben zu haben, dass es sich mit seinen Sorgen, einer unendlichen Traurigkeit, dieser schrecklichen Einsamkeit nicht an Vater oder Mutter gewandt hat“ (S. 36). Vermutlich hätte er selbst, so sinniert der Autor, auch von seinen Schwächen, persönlichen wie beruflichen, erzählen sollen, um die Erwartungen, die das Leben an einen „Marboe“ stellt, zu relativieren.
Breiten Raum nehmen in den Reflexionen, die keineswegs nur Notizen, sondern ein detaillierter, liebevoller Austausch mit Tobias sind, Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes sowie die Verabschiedung des Verstorbenen ein. Fürbitten der Geschwister, Verwandten und Freunde, die Predigt des der Familie eng verbunden Paters verweisen auf die Bedeutung von Ritualen in Zeiten tiefster Trauer. Dass trotz, nein, gerade wegen des erlittenen Schicksalsschlages die Existenz eines liebenden Gottes für Golli Marboe außer Zweifel steht, ist berührend und schlüssig zugleich, denn nur mit der Aussicht auf „eine zweite Ebene unseres Alltags“ (S. 82) und der damit verbundenen Gewissheit auf ein Wiedersehen mit Tobias ist das Leben für den Vater tragbar.
Das Tabu des Suizids überwinden. Eindringlich verfolgt Golli Marboe zugleich ein gesellschaftspolitisches Ziel, indem er dafür wirbt, das Thema Suizid zu einem öffentlichen zu machen. Qualitätsmedien und der ORF hätten die Aufgabe, fundiert und unaufgeregt darüber zu berichten, denn nicht Nachahmung, sondern Hilfe für Gefährdete und betroffene Angehörige würden dadurch erreicht. Nicht Sentimentalität, sondern Solidarität seien in Anbetracht der Tatsache gefordert, dass sich in Österreich „im Jahr 2018 2009 Menschen das Leben nahmen, fast dreimal so viele wie im Straßenverkehr umgekommen sind. Studien zu psychischen Krisen lassen eine Steigerung dieser Zahl in den kommenden Monaten befürchten.“ (S. 39) Wie Untersuchungen an der Medizinischen Universität Wien gezeigt haben, kann dieser Entwicklung durch die Enttabuisierung von Themen wie Angst, Depression und Suizid entgegengewirkt werden. Gesprochen wird in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Mozarts „Zauberflöte“ vom „Papageno-Effekt“. Dem lebensfrohen Vogelhändler wurde ja, wie wir wissen, durch aufmerksame, fürsorgliche Begleitung in höchster Not geholfen und letztlich himmlisches Glück auf Erden zuteil. Die drei Knaben fungieren, wenn man so will, als präventive Trauerbegleiter!
Gewidmet hat Golli Marboe dieses eindrucksvolle und berührende Buch seiner Enkelin Alma, der Tobias in seinem Abschiedsbrief versprochen hat, als Schutzengel zur Seite zu stehen. So betrachtet, dürfen wir hoffen, dass das Leben nach einem Suizid nicht zu Ende ist.
Golli Marboe: Notizen für Tobias. Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes.
Salzburg Residenz Verlag, 2021. | 223 Seiten | ISBN 978-3-7017-3514-3 | Preis: 24 Euro